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Hartz IV überwinden
Zukunft sozial gestalten
Hartz IV-Reformen und Chancengleichheit für alle Kinder in der Bundesrepublik
Hartz IV reformieren oder sogar Hartz IV abschaffen... Fortsetzung
Das Bürgergeld, das seit Januar 2023 das sogenannte Hartz IV ablöst, ist in der Theorie eng mit einem Paradigmenwechsel verbunden, und zwar in erster Linie im Verhältnis zwischen Ratsuchenden/BürgerInnen und Behörde.
Konkret bedeutet dieser Paradigmenwechsel, dass Fort- und Weiterbildung Vorrang hat vor einer schnellen, sanktionsorientierten Eingliederung in den Arbeitsmarkt und dass auf eine respektvolle und wertschätzende Kommunikation Wert gelegt wird. Damit soll der Weg für eine nachhaltige Eingliederung in das Arbeits- und Berufsleben geebnet werden.
Dieser Sinneswandel, so die Befürworter des Bürgergeldes, sollte sich aber nicht nur auf den Bereich der Integration in Arbeit und Beruf beziehen, sondern auch auf den leistungsrechtlichen Bereich im SGB II. Erweiterte Grenzen des Schonvermögens und Karenzzeiten bei der Übernahme von nicht angemessenen Unterkunftskosten im ersten Jahr des Bezugs sollen zudem den Zugang zum Bürgergeld erleichtern und eine Orientierungsphase ohne behördlichen Druck ermöglichen.
Politisch gibt es hierzu widersprüchliche Meinungen. Vor allem sanktionsfreie Zeiten beim Bezug von Bürgergeld werden als Freifahrtschein für Arbeitsverweigerung gesehen, verbunden mit einem Leben „auf Kosten der Menschen, die ohne Sozialleistungen ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien sichern“. Diesem Gedanken hat die Koalition mit der Streichung einer geplanten sanktionsfreien Zeit bereits Rechnung getragen. Auf der anderen Seite werden immer wieder Stimmen laut, die sich für eine sanktionsfreie Vermittlung in Beruf und Arbeit und damit in das gesellschaftliche Leben aussprechen.
Grundlegende Überlegungen unsererseits zu den unterschiedlichen Sichtweisen auf die geschilderte Problematik:
Der Personenkreis der Bürgergeld-BezieherInnen zeichnet sich durch eine große Heterogenität der Voraussetzungen für eine Arbeits- bzw. Berufstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus. So gibt es beispielsweise Leistungsberechtigte mit familiären oder gesundheitlichen Gründen, die ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt erschweren. Aber auch unzureichende Qualifikationen hindern Menschen daran, eine Arbeit zu finden oder den Anforderungen des Arbeitslebens gerecht zu werden.
Prekäre Beschäftigungsverhältnisse haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Ein herausragendes Merkmal der meisten Leistungsberechtigten ist jedoch, dass sie grundsätzlich arbeiten wollen. Es besteht ein ausgeprägter Wunsch, ein ausreichendes Einkommen zu erzielen, um unabhängig von Sozialleistungen leben zu können.
Vor diesem Hintergrund muss erkannt werden, dass Sanktionen für eine Eingliederung eher kontraproduktiv sind. Dies zeigen auch die Erkenntnisse aus 17 Jahren Hartz IV. In dieser Zeit wurden Sanktionen offensiv eingesetzt und gleichzeitig bildete sich eine große Gruppe von Langzeitarbeitslosen heraus. Darüber hinaus zeigen in dieser Dokumentation die Ergebnisse der Beschwerdestelle deutlich, wie maßregelnd und entwürdigend die methodischen Ansätze im Bereich „Arbeitsmarkt und Integration“ waren. Nach den Erkenntnissen aus dem Beschwerdeverfahren gipfelte die leistungsrechtliche Absicherung unter Hartz IV in unzuverlässigen Bearbeitungsverfahren, Mängeln in der Bearbeitung und Fehlverhalten im persönlichen Bereich der Kommunikation.
Mit den beschriebenen gegensätzlichen Positionen haben wir uns seit vielen Jahren auseinandergesetzt.
In verschiedenen Projekten, wie im Projekt „Rat und Tat“ und dem „Modellprojekt Sozialagentur“, haben wir erprobt, welche Art der Kommunikation zielführend ist, um Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, dabei zu unterstützen, eigenständig Wege aus dieser prekären Abhängigkeit zu finden.
Gegenstand der Untersuchungen war aber auch die Frage, wie mit Sozialleistungen umzugehen ist, wenn eine berufliche Integration oder eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt aus unterschiedlichsten Gründen derzeit nicht möglich ist. Diese Arbeiten wurden immer wissenschaftlich begleitet.
Die von uns in den Vorjahren entwickelten Standards zur „Verbraucherberatung zum sozialen Netz“ haben wir in allen Projekten konsequent umgesetzt: Diese Standards waren immer geprägt von einer Kommunikation auf der Grundlage von Respekt, Wertschätzung und Freiwilligkeit – auf Augenhöhe.
Deutlich wurde bei diesen Beratungsansätzen, wie viel Potenzial an Energie, Motivation und Bereitschaft zu selbstbewusstem Handeln die Ratsuchenden entwickeln können. Motivation, Wertschätzung und die gemeinsame Entwicklung von Perspektiven bergen demnach die größten Chancen für eine nachhaltige Verwirklichung von Arbeits- und Berufsperspektiven. In diese Rich- tung scheint jetzt auch die Bundesregierung gehen zu wollen.
Der beabsichtigte Paradigmenwechsel, den die Bundesregierung so politisch effektvoll postuliert, erfordert aber mehr als eine Gesetzesänderung. Notwendig ist ein grundsätzlicher Wandel im Behördensystem, sozusagen im Geist und in der Organisation der Behörde. Wir haben es derzeit noch mit einem Behördensystem zu tun, das bei der Vergabe von Leistungen in Verbindung mit Maßnahmen der Integration in Arbeit gesetzliche Vorgaben rigide erfüllt.
Das gesamte System der neuen Bürgergeldmaschinerie erfordert, neben professionell aufgestellten Jobcoaches und SachbearbeiterInnen, ein Personalmanagement, das die qualifizierte Arbeit der SachbearbeiterInnen und der Jobcoaches im Jobcenter honoriert und födert, Qualifizierungen gewährleistet und damit eine größtmögliche Kontinuität im Personalbudget sicherstellt. Das würde dem Ansehen der Behörde zugutekommen und ein positives Bild hinterlassen. Das Ansehen der Behörde würde wiederum auch ein verändertes, positives Bild auf die Ratsuchenden schaffen.
Menschen, die auf Sozialleistungen angewiesen sind, haben ein Recht auf Würde und Respekt in diesem hoch entwickelten sozialen Sicherungssystem. Sie haben ein Recht auf ein Beratungssystem, das qualifiziert und personenzentriert finanzielle Sicherheit gewährleistet und damit nicht nur arbeitsmarktorientierte Perspektiven eröffnet, sondern auch echte gesellschaftliche Teilhabe erschließt.